Die Nachbarin


Seit drei Jahren bin ich Großvater . Der Herrgott hat Gnade walten lassen und hat uns in einer Zeit, wo alles zu Eis zu erstarren scheint was Familie und Nachwuchsgenerationen angeht, ein kleines Enkeltöchterchen beschert .
Meine Tochter Anja nutzt die Wochenenden, um sich zusammen mit ihrer Familie auf unserem Bauernhof, den wir gemeinsam zum Erholungspark umgestaltet haben, zu erholen .
Auch die Söhne Michael und Sascha lassen sich schon einmal blicken, um Großmutter Hildegard und uns Eltern einmal zu besuchen .

Meine gute Frau Marlis und unsere Enkeltochter Natascha sind ein verschworenes Team .
Es vergeht keine Minute , wo sie beide nicht zusammen sind und irgend etwas ausbrüten.
Wir alle genießen diese Wochenendidylle ! Jeder auf seine Art .
Natascha und Marlis sitzen im Garten und schauen den Meisen zu, wie sie emsig auf Futtersuche sind, der Schwiegersohn Thomas thront im Fernsehsessel der Großmutter , bei uns als Oma Hildegard bekannt ,und verfolgt die Sportschau, mein Sohn Michael ist an der Gramme, einem kleinen Fluß, der später in die Unstrut mündet, und angelt die Bachforelle . Anja kümmert sich um die Jugend des Landkreises Sömmerda und Sascha putzt seinen roten Sportflitzer, den er regelrecht anbetet .
Ich sitze am Computer , um Neuigkeiten im Internet zu lesen .

Es ist schon schön zu Hause . Friedlich leben wir zusammen und genießen unsere Freizeit .

In der Nachbarschaft hat sich viel verändert . Seit der Osten Deutschland´s nach den vielen Wirren der Nachkriegszeit nun doch nicht mehr den Sozialismus aufbaut , sondern wie
drei Viertel der übrig gebliebenen Deutschen in den Altbundesländern auch
die Freie Marktwirtschaft probt, wird nachweisbar ungeheuer viel gebaut !
Auch in Wundersleben .
In einem extra neu geschaffenen Wohn- und Gewerbepark , kurz Mischgebiet genannt , sind über 60 neue Häuser entstanden. Seitdem haben wir statt 400 - stattliche 725 Einwohner im Dorf . Es existieren neben alten Vereinsstrukturen vergangener Tage , wie Feuerwehr und
Sportverein, auch neu geschaffene Vereine :
Es bildete sich noch der Schützenverein und ein Kinderbetreuungsverein . Mit dem Sportverein an der Spitze wird alljährlich ein Dorf- Sport - und Spielfest veranstaltet, das
das Festzelt und Umgebung beben läßt . Ein gutes Zeichen für die Geselligkeit im Dorf !
So wachsen die Alt - und Neubürger des Ortes zusammen . Ein Beispiel , das für ganz Deutschland Schule machen könnte .
Aber Neubauten sind nicht nur im Mischgebiet entstanden . Altehrwürdige Scheunen oder baufällige Häuser mußten weichen , und in den entstandenen Baulücken sind wunderschöne Eigenheime im neuen Stil entstanden .

Das ganze Dorf ist in einem wahren Glanz gehüllt !
Auch in der Brauhausgasse in Wundersleben hat sich viel verändert . Zwei neue Häuser verschönern meine Aussicht, wenn ich nach einer guten Nacht am Morgen aufstehe und am Fenster eine frische Brise Morgenluft einatme .

Schräg gegenüber wohnt eine junge Familie mit zwei Töchtern Namens Kathrin und Maria .
Kathrin kommt im September in die Schule und strotzt vor Aufgewecktheit ! Selbstbewußt schaut sie schon heute in die Welt und wird einmal als junge Frau dazu beitragen, die Welt anders zu gestalten . Vielleicht besser und gerechter für alle .
Aber manchmal ist sie auch schon ein wenig frech für ihr Alter . Unsere Großmutter weiß davon ein Lied zu singen, wenn ihre Autorität nicht bis zu Kathrin vordringt .

Besonders wenn Natascha bei uns zu Besuch ist , bleibt Kathrin nicht lange aus , und ein wildes Treiben setzt auf dem Hof ein, daß selbst die frechen Spatzen erschrecken .
Alle anderen Tiere des Hofes gehen in Deckung und träumen von der gewohnten Ruhe in Haus und Hof .
Es kommt aber auch schon vor , daß unsere kleine Nachbarin einfach so mal nach dem Rechten sieht !
Wir mögen sie und lassen uns ihre freche Aufgewecktheit Wohlsein .

Als Großvater habe ich so mit meinen 51 Jahren meine Probleme ! Mit dem Laufen klappt es nicht immer so recht,
der Rücken schmerzt , der Kopf brummt . Auch so ist nicht zu übersehen, daß der Zahn der Zeit an mir nagt .
Mein schönes dichtes Haupthaar von einst ist Geschichte , und mit viel Würde und Haarspray
frisiere ich meine letzten Locken, die nur wenig an vergangene Tage erinnern .
Kurz gesagt : Mein Haar ist recht schütter geworden!
Nun ist dies eigentlich kein Thema für mich. Und doch spreche ich nicht gerade gern darüber, daß ich eine Glatze habe .
Viel lieber wäre es mir, ich bräuchte den Kamm und nicht den Waschlappen, um mich zu frisieren . Das Thema ist bei uns zu Hause streng tabu .

Nun haben wir wie gesagt oft Besuch , und auch unsere kleine Nachbarin ist dann wie gewohnt mit von der Partie .

" Heut machen wir mal einen Ausflug ! " fordert meine Frau . Und schon sitzen wir im frisch geputzten Auto und fahren zum Possen Richtung Sondershausen .
Natascha und Kathrin wie vorgeschrieben auf den Rücksitz . Ordentlich auf einem extra dafür vorgesehenen Kindersitz angeschnallt .
Es gibt viele Fragen und nicht immer die passende Antwort , das Auto tuckert vor sich hin und die Mädchen sind auf Entdeckungskurs . Tausend Fragen, auf die immer eine passende Antwort parat sein muß . Es ist anstrengend !

Plötzlich hat mir Kathrin etwas sehr wichtiges zu sagen :
" Weiß Du , " sagt sie hinter mir auf dem erhöhten Kindersitz sitzend :
" Bei Dir wächst schon der Kopf durch die Haare ! "

Gesagt , getan , und schon gibt es wieder viel zu entdecken , zu fragen und mitzuteilen .

Am Abend stehe ich vor dem Spiegel , sehe meinen Kopf durch das Haar schimmern
und freue mich auf den nächsten Besuch meiner kleinen Nachbarin Kathrin.


Alt und neu wächst zusammen !

 

© copyright by Jacques Lupus